Tagung: Posthumane Perspektiven im Dialog mit vormoderner Kultur

Posthumane Perspektiven im Dialog mit vormoderner Kultur: Neue Zugänge zur deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, 28. Anglo-German Colloquium, Somerville College, Oxford, 3.-6. September 2025.

Posthumane Perspektiven im Dialog mit vormoderner Kultur: Neue Zugänge zur deutschsprachigen Literatur des Mittelalters 28. Anglo-German Colloquium, Somerville College, Oxford, 3.-6. September 2025.

In principio omnes creature viruerunt;

In medio flores floruerunt;

Postea viriditas descendit.

(Hildegard von Bingen, Ordo Virtutum 343-345)

In Diskussionen über die Auswirkungen von Klimawandel, sozialer Ungleichheit oder Pandemien auf die Menschen hat es sich etabliert, mittelalterliche Bilder von Apokalypse und Weltuntergang zu evozieren, ohne dass deren kultureller Kontext reflektiert würde. Posthumane Theorien sind der Versuch, ein solches menschenzentriertes Denken zu hinterfragen, dezentrierte Blicke auf die Welt zu ermöglichen (so wie es die berühmten Bilder von der Erde als dem fragilen ‚blauen Planeten‘ aus dem All erstmals visuell inszenierten) und Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie in Frage zu stellen. Einem solchen Versuch kann, wie das Eingangszitat aus dem ‚Ordo Virtutum‘ Hildegards von Bingen demonstriert, mittelalterliche Literatur wesentliche Impulse geben: Hildegards alternativer Schöpfungsbericht entwirft ein Weltbild, in dem Blumen und Pflanzen im Zentrum stehen, und in der abstrakten Qualität der ‚viriditas‘ sind nicht nur die grüne Farbe der Pflanzen, sondern Vitalität und Leben eingeschlossen (Marder 2021:11). Mit der Tagung möchten wir dazu einladen, neue theoretische Perspektiven des Posthumanismus für die Germanistik fruchtbar zu machen, zugleich aber auch aufzeigen, wie wichtig mittelalterliche Texte aus dem deutschsprachigen Raum für die Diskussion um die Position der Menschen in einer sich rapide verändernden Welt sein können.

1. Posthumane Zugänge zur Welt

Der von Crutzen und Stoermer im Jahr 2000 eingeführte und gerade in den Geisteswissenschaften schnell aufgegriffene Begriff des Anthropozäns ist von einer inhärenten Spannung gekennzeichnet: Einerseits reflektiert er, dass Menschen in ihrer Wirkung auf die Welt geologischen Kräften gleichkommen und nicht mehr allein lokale Krisen auslösen, sondern globale Veränderungen zu verantworten haben, wie sie bisher nur Naturkräfte bewirkt hatten – etwa das Ende der großen Eiszeit, das den Beginn des Holozäns markierte (Chakrabarty 2021). Dabei bedrohe, so Crutzen und Stoermer, das neue Erdzeitalter des Anthropozän auch viele Entwicklungen des Holozän, das mit der Verbreitung von Sesshaftigkeit, Ackerbau, städtischen Siedlungsformen, gesellschaftlichen Institutionen und der Entwicklung von Fabrikationstechniken sowie von Schriftlichkeit von Fortschrittsdenken geprägt war. Materialistische Entwürfe (Latour 2017) aus den Sozialwissenschaften zielen darauf, binäre Gegensätze zwischen Natur und Konstrukt zu überwinden, blenden allerdings oft die ethischen Konsequenzen neuer Handlungsmodelle aus. Angesichts einer nicht selten als bedrohlich wahrgenommenen Fähigkeit der Menschen, die Welt zu verändern, formulieren posthumane Theorien die Notwendigkeit neuer Denkmodelle, in denen die Menschen nicht mehr Zentrum der Welt sind, so dass menschliche und nichtmenschliche Akteure miteinander statt gegeneinander existieren können (Braidotti 1993; Haraway 2003).

Wie Braidotti (2013) hervorhebt, ist der Mensch als vernunft- und sprachbegabtes Wesen das Zentrum aller humanistischen Weltzugänge. Dieses Modell setzte nicht nur ethische, ästhetische und diskursive Standards für Individuen, sondern wurde seit Hegel auch zum Maßstab kultureller Vergleiche, in denen Europa als das Zentrum rationaler Fortschrittsdiskurse gilt. Gegen diese Hegemonie eines binären Modells, das über Differenzsetzungen feminine, nicht-rationale, außereuropäische Formen als das Andere konstituiert und oft abwertet, wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend Kritik geäußert (Braidotti 2013). Foucaults ‚Die Ordnung der Dinge‘ (1970) stellt die Zentralstellung des Menschen in Frage. Derridas poststrukturalistischen Beobachtungen zur Gewaltausübung durch Sprache (1967), sowie Edward Saids Analyse kolonialer Strukturen in Kunst und Politik (1978), lenken den Blick auf die Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen humanistischer Fortschrittsideale.

2. Mediävistische Perspektiven auf den Posthumanismus

Vormoderne Texte können dabei neue Wege aufzeigen, da sie als selbstverständlich vorausgesetzte moderne Vorannahmen in Frage stellen, perspektivieren oder nuancieren. Wie Hildegards Theologie der ‚viriditas‘ illustriert, gibt es im Mittelalter lebhafte Debatten darüber, ob den Menschen als den ‚sprechenden Tieren‘ innerhalb der Schöpfung eine absolute Sonderstellung zukomme oder ob sie vielmehr Teil einer auch Pflanzen, Tiere und Steine umfassenden Gesamtheit seien. Diese seit der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption kontrovers diskutierten Positionen und die aus ihnen resultierenden ethischen Konsequenzen bieten eine neue Perspektive auf die ebenso kontrovers diskutierten Gegenwartsfragen danach, ob das Anthropozän neue, flachere Ontologien benötige, in denen die Differenzen zwischen bewussten, intentionsgetriebenen Formen des Lebens und anderen zusammenfalle, so dass z. B. auch Steine ‚agency‘ haben können (Bennett 2010; Morton 2007) oder eine Koexistenz zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Spezies möglich wird (Haraway 2003) – oder ob eine solche Aufhebung der ontologischen Differenzen eine Lösung gesellschaftlicher Probleme gerade behindere (Horn/Bergthaller 2021). Zudem kann eine Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Texten zentrale Vorannahmen des Humanismus perspektivieren. Braidotti (2013:21; 2022:18) erinnert daran, dass Simone de Beauvoir dem auf Leonardo da Vinci zurückgehende Bild des Vitruvianischen Menschen, in dem ein weißer, männlicher, europäischen Körper zum Modell von Menschlichkeit erhoben wird, ein Gegenmodell in der ‚Neuen Vitruvianischen Frau‘ gegenüberstellt. Doch bereits Hildegards ‚Scivias‘ stellt in den Mittelpunkt ihrer Visionen eine Figur, die zwar deutlich weiß und adlig, aber eben auch weiblich ist.

Hier setzt die Tagung an, da eine Auseinandersetzung mit mittelalterlichen deutschsprachigen Texten in diesem Umfeld bisher kaum stattgefunden hat, wie aufgezeigt aber wesentliche Erkenntnisfortschritte verspricht. In drei Bereichen dürfte die Untersuchung mittelalterlicher Texte dazu beitragen, neue Perspektiven zu entwickeln. Von Hildegards Weltei, bis zu Wolframs Kreaturen am Rande der Weltscheibe und Frauenlobs apokalyptischen Marienvisionen entwerfen mittelalterliche Texte auf unterschiedliche Weise Modelle einer Welt, in denen Menschen nicht im Zentrum stehen. Sie weisen wesentliche Unterschiede zu modernen Entwürfen auf, z. B. in der Konzeption von Zeit (Kiening 2021) und in der Rolle der Natur (Kellner 2020). Methodisch erfordern vormoderne Texte zudem eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass Sprache seit Aristoteles als Differenzkriterium zwischen Menschen und anderen Lebensformen verstanden wird, andererseits aber globale Geschichtsmodelle auch Epochen vor der Schriftlichkeit oder sogar vor dem Aufkommen menschlicher Sprache in den Blick rücken (Chakrabarty 2021). Mystische Texte des Mittelalters konfrontieren diese Sonderstellung und zugleich Unzulänglichkeit eines Weltzugangs, der über Sprache vermittelt ist und dort zugleich an seine Grenzen kommt, ohne das Prinzip der Sprachlichkeit und ästhetischer Formung aufzugeben; sie dürften daher von besonderem Interesse für das Tagungsthema sein. Schließlich haben jüngere Untersuchungen hervorgehoben, dass mediävistische Auseinandersetzungen mit instabiler Textualität dazu beitragen können, jenseits einer humanistischen Fixierung auf Autorkonzeptionen oder feste Texte auch kollektiver Netzwerke und kreative Offenheit in den Blick zu nehmen (Suerbaum 2022).

Posthumane Ansätze sind in der Mediävistik fruchtbar aufgegriffen worden, wenn auch bisher nur in begrenztem Umfang. Besonderes Interesse an posthumanen theoretischen Ansätzen findet sich in den angloamerikanischen Medieval Studies, wo solche Studien oft politisch motiviert sind und hervorheben, welchen Beitrag Mittelalterstudien zu dringenden zeitgenössischen Fragen leisten kann. Mittelalterliche Texte tragen dazu bei, die seit der Aufklärung oft bedingungslos vorausgesetzte Zentralstellung des menschlichen Subjekts zu destabilisieren, denn die Grenzen zwischen Subjekt/Objekt, Mensch/Tier, männlich/weiblich sind oft fluid. Die bisherige Forschung konzentriert sich auf drei Bereiche: Tierstudien, Ding-Theorie und Ökokritik.

Im Rahmen der ‚critical animal studies‘ hat man sich davon entfernt, das Tier als Symbol zu betrachten, und versucht stattdessen, Tiere eher buchstäblich als Vertreter der Tierwelt zu lesen. Einige Ansätze haben die produktive Überschneidung und Spannung zwischen dem Allegorischen und dem Kreatürlichen betont (z. B. Salisbury 1994; Kiening 2002); andere haben gezeigt, wie Tiere das Wesen der Menschheit in Frage stellen und zum Nachdenken über Formen der Dominanz, Subjektivität oder Souveränität anregen (Steel 2011; Crane 2013; McCracken 2017; McGregor 2023). Der rote Faden, der sich durch einen Großteil dieser Arbeiten zieht, ist das Argument, dass Tiere in der mittelalterlichen Literatur nicht nur zur positiven Abgrenzung vom Menschen fungieren, sondern dass sie als eigenständig handelnd hervortreten und auf diese Weise eine anthropozentrische Weltsicht destabilisieren (Bowden 2024).

Studien zu mittelalterlichen Dingen (‚Thing Studies‘) erforschen, wie nicht-menschliche Objekte Handlungsfähigkeit (‚agency‘) haben können, und zwar sowohl innerhalb wie außerhalb von Texten. Sie demonstrieren auf diese Weise, wie produktiv pragmazentrische, d. h. Ding-fokussierte Lesarten sein können, welche die Subjekt-/Objekt-Binarität zwischen ‚Mensch‘ und ‚Ding‘ destabilisieren. Mediävist*innen haben produktiv für die Unangemessenheit moderner Konzeptualisierungen von Subjektivität für die mittelalterliche Kultur argumentiert (Robertson 2008) und gezeigt, wie Texte den Dingen eine ,Stimme‘ verleihen (z. B. Paz 2017). Mühlherr et al. (2009) haben das Potenzial dieses Bereichs im Kontext der Altgermanistik aufgezeigt, indem sie nachweisen, wie reich die mittelalterliche Literatur an nicht-menschlichen Akteuren ist. Auch Bettina Bildhauer (2020) argumentiert, dass Dinge eine Handlungsfähigkeit haben können, ohne zu anthropomorphisierten ‚Subjekten‘ oder Fetischen zu werden, eine Handlungsfähigkeit, die mit Bruno Latour und Karen Barad am besten im Sinne eines Prozesses oder einer ‚Intra-Aktion‘ verstanden wird, die die Handlung anderer Akteure beeinflusst oder verändert. Kontrovers diskutiert wird dabei, wie weit Ansätze einer objektorientierten Ontologie (‚object-oriented ontology‘), wie sie von Timothy Morton und Bruno Latour vertreten wird, in Disziplinen anwendbar ist, für die Sprache und Verschriftlichung zum zentralen Instrumentarium gehören. Hier dürfte gerade eine Untersuchung mittelalterlicher Texte dazu beitragen, die Bedeutung von Bewusstsein, Intention und Wahrnehmung zu untersuchen (Horn/Bergthaller 2019).

Mediävist*innen wenden sich außerdem zunehmend ökokritischen Interpretationen zu. Indem sie sich bei der Lektüre auf die natürliche Umwelt und ihre Rolle in der literarischen Tradition konzentrieren, werden diese Studien von einem Wunsch angetrieben, der in der heutigen Welt eine besondere Dringlichkeit hat: die natürliche Welt nicht mehr als Ressource zu betrachten und wahrgenommene Hierarchien zu verflachen, was zu einer Destabilisierung der menschlichen Subjektivität führt und zeigt, dass Handlungsfähigkeit nicht immer aus menschlicher Intentionalität resultiert, sondern vielmehr ihre Wurzeln in der Landschaft finden kann. Schiff/Taylor (2016) haben z. B. die Überschneidung von Literatur und Recht bei der Darstellung bestimmter Landschaften untersucht und sich dabei auf die Arbeit von Giorgio Agamben gestützt; andere (z. B. Siewers 2009) zeigen unter Bezug auf mittelalterliche theologische Diskurse, wie Landschaft die Präsenz des Göttlichen sichtbar macht. In einem wichtigen Beitrag plädiert Griffin (2018) für einen breiteren theoretischen Ansatz, den Ökomaterialismus, der über die natürliche Umwelt hinausgeht und andere Aspekte des Materiellen einbezieht, insbesondere die materielle Überlieferung der mittelalterlichen Handschriften.

3. Tagungskonzeption und mögliche Themengruppierungen

Mit dieser Tagung wollen wir die Arbeit der germanistischen Mediävistik in einen kritischen Dialog mit dem Posthumanismus bringen, denn trotz einiger wegweisender Arbeiten sind Untersuchungen zum deutschsprachigen Raum im Kontext der ‚Medieval Studies‘ bisher wenig präsent. Ziel der Tagung ist es daher, Fragen nach der Bedeutung von Materialität, Textualität und Sprachlichkeit mittelalterlicher Texte und Konzeptionen von Welt im Kontext posthumaner Ansätze neu zu perspektivieren. Dabei geht es nicht nur darum, neues Material und neue Kontexte sichtbar zu machen, sondern auch darum, theoretische Ansätze der Gegenwartsdiskussion kritisch zu hinterfragen und in neue Richtungen zu führen. Bisher etwa beschäftigt sich die ‚posthumane’ Mediävistik vornehmlich mit weltlichen Erzähltexten; religiöse Literatur oder Werke der Geschichtsschreibung haben bisher kaum Berücksichtigung gefunden. Gerade deutschsprachige geistliche Literatur dürfte aber wesentliche Impulse dafür liefern, wie die in vielen öko-materialistischen Zugängen fehlende ethische Dimension eingebracht werden könnte. Wir hoffen daher, dass Präsentationen, die sich stärker mit zeitgenössischen theologischen, philosophischen und wissenschaftlichen Texten befassen, aber auch Beiträge zum materiellen Text und den Beziehungen zwischen Text und Bild hier neue Impulse setzen können. Wir freuen uns über Beiträge, die von den oben genannten Aspekten inspiriert sind, und schlagen folgende Themenbereiche vor, sind aber auch offen für darüber hinausgehende Vorschläge:

  • Tier-Studien/Animal Studies. Wie wird das Tier im Verhältnis zum Menschen dargestellt, und wie wird die Beziehung zwischen beiden destabilisiert? Beiträge könnten die Handlungsfähigkeit von Tieren jenseits des Anthropomorphismus untersuchen; sie könnten Methodologien aus den Gender- oder Queer Studies nutzen und Formen des ‚wilden‘ Begehrens untersuchen, die in Tierfiguren eingeschrieben sind (Halberstam 2020). Weitere Untersuchungsfelder sind hybride, halb-‚menschliche‘ Körper (z. B. in Weltkarten oder in der Herzog Ernst-Tradition); der Bereich des Monströsen (Montroso 2022); und ‚Kompositkörper‘, also Assemblagen im Sinne von Deleuze und Guattari (Cohen 2003), – z. B. Heilige oder Ritter, in denen ein tierischer Körper mit dem menschlichen verschmilzt und so eine zusammengesetzte, destabilisierende Identität schafft (z. B. im Iwein). Wichtig wären zudem Beiträge zur Rolle der Sprache und der Rationalität – z. B. zum Vogelgesang in der Lyrik. Wir begrüßen zudem Beiträge, welche die bildende Kunst (z. B. Weltkarten, Handschriftenillumination, Wandmalerei) einbeziehen
  • Umwelt, Landschaft und Natur. Die Altgermanistik hat sehr produktiv mit der Raumsemantik (vgl. Hasebrink et al. 2008) und der Natur-Kultur-Debatte gearbeitet. Posthumane Ansätze zur Umwelt gehen jedoch methodisch anders vor und konzentrieren sich weniger auf narratologische Fragen als vielmehr auf die Art und Weise, wie die natürliche Welt gegenüber ihren menschlichen Bewohnern (die natürlich nicht ihre einzigen Bewohner sind) priorisiert wird. Wir erhoffen uns Beiträge, die untersuchen, inwiefern traditionelle Binaritäten, wie die zwischen menschlicher und natürlicher Welt, immer nur Konstruktionen sind, die sich als unzulänglich erweisen. Zu den möglichen Themen könnten Naturkatastrophen, Wetter und Klima gehören (vgl. Stolz et al. 2017), aber auch Konzeptualisierungen von Krise und Apokalypse. Das Thema des Menschen als Mikrokosmos im Makrokosmos der geschaffenen Welt verdient nähere Untersuchung, ebenso wie die Dezentrierung des Menschen in der religiösen Literatur und der Mystik (z. B. Hildegard von Bingen). Begrüßenswert wären zudem Beiträge, die sich mit enzyklopädischen Werken befassen (z. B. Konrad von Megenberg; Lapidarien; Herbarien)
  • Posthumane Textualität. Sarah Kay u. a. haben gezeigt, wie wichtig es ist, sich nicht nur text-inhaltlich mit dem Nicht-Menschlichen zu beschäftigen, sondern auch mit der materiellen Dimension der Textproduktion (Kay 2017). Handschriften, die aus Pergament und Leder hergestellt werden, sind selbst hauptsächlich tierische Produkte und deshalb auch nicht-menschliche Objekte, die selbst Formen von Macht ausüben. Tiere wie Mikrobe interagieren mit dieser Materialität (Solberg 2020). Zugleich bieten mittelalterliche Texte interessante Formen von Selbstreflexivität und Reflexion über menschliches Handeln bei Tätigkeiten des Schreibens (Kirakosian 2021). Zu fragen wäre etwa, wie mittelalterliche Autor*innen ihren Gebrauch von Form, Rhetorik und Poetik thematisieren und wie dies mit ihrem Selbstverständnis als menschliche Autor*innen zusammenhängt, aber auch, inwieweit diese Autorschaft als menschlich konzeptioniert ist.
  • Objekt als Subjekt? Aufbauend auf wichtigen Arbeiten aus der Germanistik (Mühlherr 2009; Bildhauer 2020) wäre es möglich, die Auseinandersetzung mit Dingen mit den anderen oben genannten Bereichen in einen Dialog zu bringen. Bisher liegt der Schwerpunkt in der germanistischen Mediävistik auf den Dingen in der weltlichen Literatur – aber wie sieht es mit der Art und Weise aus, in der spezifisch religiöse oder sakrale Wirkungen von Dingen ausgeübt werden können, seien sie textlicher oder materieller Natur? In den Beiträgen könnte zudem darüber nachgedacht werden, was wir unter Handlungsfähigkeit verstehen und wie das Wesen der Handlungsfähigkeit konzeptualisiert und theoretisiert werden kann.

Wir freuen uns über Beiträge zu allen Aspekten der Kulturproduktion aus dem deutschsprachigen Raum im Mittelalter, nicht nur von Germanist*innen, sondern auch aus der Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Theologie oder Geschichtswissenschaft; auch komparatistische und interdisziplinäre Ansätze sind herzlich willkommen. Tagungssprache ist Deutsch, aber Beiträge in englischer Sprache sind ebenso möglich, wobei wir davon ausgehen, dass die Diskussion zweisprachig bzw. hauptsächlich auf Deutsch geführt wird.

Bitte schicken Sie Ihr Abstract bis zum 31. März 2024 an sarah.bowden@kcl.ac.uk und almut.suerbaum@some.ox.ac.uk

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